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Der Essay „Gelesen heißt noch nicht verstanden“ stammt aus der Feder von Rudolf Steffens.

Der Autor legt da, dass die PISA-Studie mit der Lesekompetenz eine wichtige kulturelle Qualifikation aufgreift, die ein ganzes Bündel an Kenntnissen, Fähigkeiten und Strategien umfasst. R. Steffens erläutert, mit welchen Methoden die Lesefähigkeit bei Schülern gefördert werden kann und verweist dabei auf folgende Themen: reziprokes Lernen, bewusstes Lernen, vielfältige Lern- und Leseerfahrungen, Lesen als Konstruktion, Lernen mit komplexen Texten, methodische Interventionen.

Wie kann die Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern gefördert werden?

Nicht gut lesen zu können, bedeutet weit mehr als einfach nur ein paar Schwierigkeiten mit gewissen Texten zu haben. Es bedeutet, tiefgreifende Lernprobleme zu bekommen. Mit der Lesekompetenz greift die PISA-Studie eine kulturelle Schlüsselqualifikation auf, die ein ganzes Bündel an Fähigkeiten, Kenntnissen, Strategien und Techniken meint. So ist Lesenlernen ein komplexer und mit keiner Schulstufe abgeschlossener Prozess, der für fast jedes Weiterlernen unverzichtbar ist. So verstanden geht es beim Thema Lesenlernen um die Kultivierung unserer Lernfähigkeit. Wie also kann die Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern gefördert werden? Mit dem „reziproken Lernen“, dem wechselseitigen Lesenlehren und -lernen, bei dem Schülerinnen und Schüler zwischen der Rolle des Lehrenden und der Rolle des Lernenden hin und her wechseln, bietet sich ein Verfahren an, mit dem nicht nur leseschwache Kinder und Jugendliche unterstützt werden können.

Nahezu alle Menschen in unserem Lande haben in der Schule lesen gelernt, aber viele Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene können nicht hinreichend gut verstehen, was sie lesen. Und noch entscheidender ist: Sie wissen gar nicht, dass sie es nicht verstehen. Dieses Nicht-Können und Nicht-davon-Wissen ist in der Lernforschung als ein Merkmal eines allgemeinen Problems aufgefallen: Lernende kennen sich als Lernende – und damit ihren Lernprozess, ihre Lernschwierigkeiten – nicht gut genug. Damit korrespondiert, dass viele Lehrerinnen und Lehrer die individuellen Einzelprobleme ihrer Schülerinnen und Schüler vielfach ebenfalls nicht hinreichend gut kennen. In der PISA-Studie haben Lehrkräfte nur etwa 11 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die bei den Aufgabenlösungen nicht einmal die Kompetenzstufe I erreichten, auch als „schlechte Leser“ erkannt. (PISA 2000, Baumert 2001, S. 119) Vielleicht können viele dieser Kinder flüssig lesen – aber offensichtlich nur wenig verstehen.

Die fatale Wechselwirkung aus falscher Selbsteinschätzung und Diagnoseproblemen von Lehrkräften ist Grund genug, diesem Doppel-Problem alle Aufmerksamkeit zu schenken: den Bedingungen für bewusstes strategisches Vorgehen der Leserinnen und Leser, dem Aufbau von Wort-, Satz- und Textbedeutungen, der Verstehensschulung, der Denkerziehung und den sich stellenden Schwierigkeiten, die nicht übergangen werden dürfen.

Das alles muss da geschehen, wo das Lernen mit und aus Texten seinen „didaktischen Ort“ hat. Also nicht nur im Deutschunterricht und allemal nicht nur mit literarischen Texten, sondern in allen Fächern und stets bei der Arbeit mit Texten, mit ihren jeweils vielfältigen Formen, unterschiedlichen Herausforderungen und inhaltsbezogenen Interessen der Schülerinnen und Schüler. Der Deutschunterricht spielt für die Lese- und Verstehenskompetenz zwar eine entscheidende Rolle. Aber er kann sie nicht allein wahrnehmen. Leseförderung muss beim Lernen mit Texten auch in jeweils facheigener Zuständigkeit entwickelt werden.

Das reziproke Lernen

Das von den Erziehungswissenschaftlerinnen Annemarie Palinscar und Ann Brown Anfang der achtziger Jahre entwickelte Verfahren des „Reziproken Lehrens und Lernens“ zur Förderung leseschwacher Schülerinnen und Schüler ist beispielgebend. Nichts daran ist wirklich neu. Aber das Bekannte kommt auf neue und effektiv förderliche Weise zur Geltung.

Schülerinnen und Schüler in Gruppen mit 4 bis 7 Mitgliedern übernehmen beim Gespräch über einen Sachtext – einander abwechselnd – zwei unterschiedliche Rollen: Als Gruppenleiterinnen bzw. -leiter fordern sie die Anwendung einer weitgehend festen Sequenz von Strategien, die das Gespräch strukturieren; als lernende Gruppenmitglieder wenden sie diese selbst an (Siehe Kasten "Lesenlernen"). Sie gehen so den Weg vom Lernen zum Lehren und umgekehrt. Darin liegt der namengebende reziproke Charakter des Verfahrens.

Nachdem der erste Abschnitt des Textes still gelesen und dann vorgelesen worden ist, hat die Gruppenleiterin bzw. der Gruppenleiter das erste Wort. Das Gespräch kann sich wie folgt entwickeln:

Alle Gruppenmitglieder wenden die Strategien an: Sie antworten, fragen ihrerseits, ergänzen, verbessern, klären, fordern Klärungen ein, stellen Hypothesen auf und prüfen – und das viele Male. Dabei geht es um strukturierten und kooperativen Wissensaufbau.

Am besten wird das Muster des strategischen Vorgehens dadurch eingeführt, dass es praktisch „vorgeführt“ wird – in der Grundschule ab der 3./4. Jahrgangsstufe oder im Laufe der Sekundarschulzeit. Die Lehrerinnen bzw. Lehrer „spielen“ die Rolle der Gruppenleitung, bieten ein Modell der Strategieanwendung und sorgen für Rückblicke auf die Verfahrensweise und unter allen Umständen für anerkennende Rückmeldungen an die Schülerinnen und Schüler. Die Lehrenden bauen ihre Steuerung in „passender“ Stufung zugunsten der Arbeit in Gruppen ab. Sie werden selbst Mitglied einer Gruppe, beteiligen sich und beobachten. Die einzelnen Gruppen verfahren entsprechend ihrer eigenen Lern- und Leistungsfähigkeit.

Bewusstes Lernen

Wenn die Schülerinnen und Schüler die Strategien zunehmend selbstständig anwenden können, dann sind sie auf dem Weg dazu, einen Sachtext „elaborativ“ zu lesen und inhaltlich zu erschließen. Das Wissen um so genannte Elaborationsstrategien (also Anreichern, Ergänzen, Klären, Beziehungen herstellen zu eigenen Erfahrungen, Schlussfolgerungen ziehen, Verbindungen zwischen Textteilen und zwischen Text und Wirklichkeit herstellen) und natürlich die Fähigkeit sie anzuwenden, erwies sich in der PISA-Studie als ein wesentlicher Faktor für Lesekompetenz.

Angstfreiheit, Erfahrungen der eigenen Wirksamkeit, soziale Anerkennung und Einbettung sind mächtige Verbündete bei der Herausbildung des Wollens und bei der Verinnerlichung und zunehmenden Beherrschung des reziproken Verfahrens. Vor allem dem motivationalen und emotionalen Erfolg kann es zugeschrieben werden, dass die Kinder die Strategien „auf Dauer“ anwenden. Die Anwendung der Strategie-Sequenz verhilft auch dazu, das eigene Verstehen bzw. Nicht-Verstehen zu prüfen, sich selbst besser kennen und selbstreguliert vorgehen zu lernen. In der PISA-Studie ist von „Kontrollstrategien“ die Rede, die einen entscheidenden Einfluss auf die gezeigten Leistungen haben.

Hinzu kommen noch – in der Lernforschung und bei PISA – „Metakognition“ und „Regulation“. Je mehr ich über Strategien weiß, desto effektiver kann ich sie einsetzen und das eigene Lernen, die Lern- und Verstehensprozesse, steuern. Beim reziproken Gruppenlesen bedeutet das z.B.: Das Verfahren initiiert stilles und lautes Lesen. Die Leseaufgaben wecken und richten die Aufmerksamkeit. Sie lassen das Denken hin- und herspringen, etwa zwischen dem Erfragten oder zu Klärenden einerseits und dem Verstandenen andererseits. Sie veranlassen, nach der Funktion der Teile im Ganzen zu suchen, wichtige Teile gegenüber anderen auszulesen, sie zu verknüpfen und das in eigenen Worten zu leisten. Sie fordern heraus, neues Wissen mit dem Vor-Wissen zu vergleichen, zu verbinden und von dem vorhandenen Wissen aus auf das Kommende antizipierend vorzugreifen (Aeschbacher 1991, 3ff; Artelt 2000, 171f).

Man kann solche Komponenten des Verstehens als die Chance aufgreifen, beim Lernen mit Texten das Denken beweglich zu machen.

Vielfältige Lern- und Leseerfahrungen

Es versteht sich: Das reziproke Lernen und Lehren kann nicht alles aufbieten, was Lerntexte Schülerinnen und Schülern an Lesekompetenzen abverlangen, z.B. an Wissen, Können, Motivbildung und Wollen, Denken und Empfinden, Einstellungen und Vorgehensweisen. Das Verfahren bietet viel, worauf es uns ankommen muss; es zeigt uns vor allem wichtige Funktionen von Strategien überhaupt: Dem elaborativen Ausarbeiten dienen die Fragen, Klärungen und Voraussagen; das Zusammenfassen dient der Reduktion und Verdichtung; das Abgrenzen von Verstandenem und Nicht-Verstandenem dient der Kontrolle und dem Aufbau des Verstehens; das vorausdenkende Fortsetzen kann wie das Vor-Organisieren oder Vor-Aktivieren dieses Aufbaus wirken. In solchem Sinne gelten die Strategien des reziproken Verfahrens allgemein und sind auf alle Texte anwendbar, denen diese Funktionen zugute kommen können.

„Semantisch widerständig“ in gewissem Grade sollten diese Texte allerdings oft sein, schon deshalb, damit sie strategisches Verhalten auch herausfordern. Allzu leichte Texte bzw. Aufgaben und allzu schwere tun das sicher nicht.

Lesen als Konstruktion

Lesen und Verstehen ist Interaktion zwischen den Lesenden und einem Text, bei der es zu einer Wechselwirkung zwischen den Informationen des Textes und unserem Wissen und Denken kommt. Das geschieht auf konstruktive Weise: Wir müssen Bedeutungen von Wörtern und Sätzen des Textes mit den Bedeutungen anderer Wörter und Sätze in der Textumgebung verbinden. Wir suchen Zusammenhänge. Schon dafür brauchen wir unser Wissen und Können. Aber nicht nur das: Wir müssen Textinformationen auch mit unserem schon vorhandenen Wissen – unserem Sprachwissen, Weltwissen, Fachwissen – verbinden. Beides wird beim Lesen gebraucht, geschult und bereichert.

Eine wichtige steuernde Komponente unserer Bemühungen um den Aufbau von Bedeutungen ist das Leseziel. Wenn wir gründlich und hinreichend tief verstehen, dann bauen wir nicht nur Bedeutungen auf, sondern auch ein internes anschauliches und konkretes Modell des im Text dargestellten Sachverhalts. Die einzelnen Aussagen sind die Anleitung dazu. In der Wechselseitigkeit von Erfassen und Erschaffen, ausgehend zum einen von den sprachlichen Formen des Textes, zum andern von den Kategorien, die wir aus unserem Wissen und Denken beisteuern, bauen wir das Modell aus, reichern es an und modifizieren oder korrigieren, wenn nötig. Das schließt Überwachung, Steuerung und Bewertung ein (vgl. Christmann/Groeben 1999, 146ff, 170ff).

Der folgende Textabschnitt für eine „Probe“ dieses Modellbaus ist einem tradierten und berühmten didaktischen Klassiker entnommen, Michael Faradays „Lectures on the Chemical History of a Candle“, den Vorlesungen für Kinder und Jugendliche, die Faraday in den Weihnachtsferien 1860 in der Royal Institution in London gehalten hat und die es ab 1861 auch zu lesen gab:

„(1) Ich hoffe, ihr werdet zu Hause eine mit ruhiger Flamme brennende Kerze genau betrachten. (2) Da seht ihr dann, wie sich auf  der Kerze gleich unter der Flamme eine schalenförmige Mulde bildet. (3a) Die zur Kerze gelangende Luft steigt nämlich infolge der Strömung, (3b) die die Flammenhitze erzeugt, nach oben und kühlt dadurch den Mantel der Kerze, (3c) so dass also der Rand der Mulde gekühlt wird und weniger einschmilzt als die Mitte, (3d) wo die Flamme  am meisten einwirkt, (3e) da sie so weit wie möglich am Docht hinabläuft. (4a) Solange die Luft von allen Seiten gleichmäßig zuströmt, (4b) bleibt die Mulde vollkommen waagerecht, (4c) so dass die geschmolzene Kerzenmasse darin stehen bleiben muss.“ („Die Zeit“, Nr. 1, 1997)

Faraday leitet dazu an, etwas zu sehen, unabhängig davon, ob die brennende Kerze sichtbar vor uns steht. Wir brauchen ohnehin unsere Fähigkeit zur Imagination, denn der Text verweist auf Vorgänge, die zwar ersichtlich werden können, unmittelbar aber gar nicht sichtbar sind. Bis wir dahin gelangen, beschäftigen uns Sätze und dann Einheiten der Bedeutung, die – z.T. weit – über Sätze hinausgreifen.

Die erste Aufgabe ist die Erschließung der Wort- und Satzbedeutungen. Auf den sinnvollen Zusammenhang im Satz kommt es uns an. Dazu beachten wir die Bedeutungen der Inhaltswörter im Satzkontext, die der „satzbauenden“ Funktionswörter, der Satzglieder nach der Ordnung ihrer Aufstellung und Beziehung. Wir lesen mit innerer gesprochener Sprache, gliedern, betonen, setzen Akzente, formen um, bilden Vorstellungen u.a.m., bis wir den Bedeutungszusammenhang unsererseits in die Sprache fassen können, die uns (nun) zur Verfügung steht. Wir haben erschlossen, wovon Satz für Satz die Rede ist und was ausgesagt wird.

Die zweite Aufgabe besteht darin, über den Wortlaut der Sätze hinaus Zusammenhänge herzustellen auf dem Weg zum konkret-anschaulichen Modell des dargestellten Sachverhalts. Es handelt sich um Beziehungen zwischen Textstellen, zwischen explizit im Text gegebenen Informationen und impliziten, zwischen Textinformationen und Informationen aus unserem Erfahrungswissen. Wir schaffen die Zusammenhänge durch Denken und Vorstellen. Wir bearbeiten sie zu passenden Bausteinen für das interne Modell. Das Weltwissen kann voll zum Zuge kommen. Und die Sprache, mit der wir diese Zusammenhänge ausdrücken, die nun zur Sprache des Textes gewissermaßen hinzutritt, ist unsere eigene Sprache (Grzesik 1990, 80ff). Wir schließen von Stellen des Textes aus zurück und voraus und folgern „über den Text hinaus“. Wenn wir entdecken, wie der Text selbst vorgeht, welchem orientierenden Muster er folgt, können wir es in Vorstellungen und Denken übernehmen und entsprechend verfahren.

Das orientierende Muster des Faradayschen Textes heißt: „Phänomene sehen und begründen“. Das „Phänomen“ ist der unscheinbare, gerade noch feste Rand der Mulde direkt unter der Flamme einer brennenden Kerze. Was Faraday zu sehen aufgibt, kann die Vorstellung als anschaulichen Vorgang und das Denken als Erklärungs- bzw. Begründungsmodell konstruieren. Die Bestandteile werden sein: die heiße Flamme – die Mulde voll flüssigen heißen Brennstoffs – der dünne Rand aus derselben leicht schmelzenden Masse nahe der Flamme – die erwärmte aufsteigende Luft – die zuströmende kühle Luft (...). Die logischen Partikeln werden sein: wenn – dann, weil, so dass, deshalb (...). Wir sind unabhängig geworden vom Wortlaut des Textes und verfügen über ein Netz von Zusammenhängen, in dem wir uns frei bewegen können.

Lernen mit komplexen Texten – methodische Interventionen

Lesen ist in diesem Sinne konstruktives Ausarbeiten und mit Texten lernen heißt elaborieren lernen. Geschieht das im Unterricht zu wenig, dann kommt das Zusammenfassen, Reduzieren und Verdichten zu früh.

Konkretisierte Leseaufgaben können Elaborationen anregen, indem sie Aufmerksamkeiten lenken und z.B. auf komplizierte oder widersprüchliche Stellen hinweisen, einen leseleitenden thematischen Gesichtspunkt hervorheben, auf „Leerstellen“ aufmerksam machen, netzartige Suchbewegungen von einer Textstelle aus rückwärts und vorwärts initiieren, einen denkbaren Einwand zu einer Einzelformulierung anmelden u.a.m. (Siehe Kasten "Zwei Strategien beim Lernen mit Texten".)

Auch die zu bearbeitenden Texte selber können aktives Ausarbeiten befördern, wenn sie gut organisiert sind, mit Beispielen, sprachlichen Bildern, Metaphern bereichert, mit Komplikationen in Maßen widerständig gemacht. Aus schwierigen Texten können Lehrerinnen und Lehrer einen „multiplen“ Text machen, einen, der z.B. aus zwei Stücken besteht: aus dem Text, den die Lehrerin bzw. der Lehrer vor-organisierend, vor-aktivierend schreibt, und dem, der nun vorbereitet und nicht mehr ganz fremd ist (Wolf 1997, 185ff).

Lese-Lern-Situationen müssen deutlich elaborativ geprägt sein. Das Verfahren des reziproken Lernens ist eine Lernsituation mit solcher Prägung, aber auch jede dialogisch ausgestaltete Situation, weil sie für perspektivisches Denken und Problemlösen offen ist. Wie auch immer: Lesen ist eine Entwicklungsaufgabe der Schule.

Literatur

 


 

Siehe auch den Essay von Elsbeth Stern: Lernen: Der wichtigste Hebel der geistigen Entwicklung.

 

 


 

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