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Das Gedicht „Abend“ stammt aus der Feder von Andreas Gryphius.

Der schnelle Tag ist hin; die Nacht schwingt ihre Fahn
Und führt die Sternen auf. Der Menschen müde Scharen
Verlassen Feld und Werk; wo Tier und Vögel waren,
Trauert jetzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit, vertan!

Der Port naht mehr und mehr sich zu der Glieder Kahn.
Gleich wie dies Licht verfiel, so wird in wenig Jahren
Ich, du, und was man hat, und was man sieht, hinfahren.
Dies Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn.

Lass, höchster Gott! mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten!
Lass mich nicht Ach, nicht Pracht, nicht Lust, nicht Angst verleiten!
Dein ewig heller Glanz sei vor und neben mir!

Laß, wenn der müde Leib entschläft, die Seele wachen,
Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen,
So reiß mich aus dem Tal der Finsternis zu dir!

Siehe auch das Gedicht Der Abend von Joseph Eichendorff.

Inhalt / Zusammenfassung

Betrachtung des Abends bringt nicht Erleichterung, sondern furchteinflößende Einsicht in die Vergänglichkeit des Lebens (Vanitas Motiv) und Bitte um Rettung aus der Dunkelheit des Todes.
Aus der Vergänglichkeit alles Irdischen eine leidenschaftliche Hinwendung zum Jetzt, zum äußersten Auskosten des Augenblicks abzuleiten (Carpe Diem Motiv), ist für Gryphius offenbar keine Alternative.

Analyse

Das Gedicht "Abend" (1650; Epoche des Barock) besteht aus 4 Strophen (je 2 Quartetten und 2 Terzette). Das Reimschema "abba", "abba", "ccd", "eed" - also ein klassisches Sonett.
Die Verse mit den „b“-, „c“- und „e“-Reimen sind dreizehnsilbig, die Reime weiblich, die Verse mit den „a“- und „d“-Reimen sind zwölfsilbig, die Reime männlich.
Das Metrum ist regelmäßig alternierend, es liegt ein sechshebiger Jambus vor. Die Zäsur folgt regelhaft der sechsten Silbe (= der dritten Hebung ) - ein typischer Alexandriner.

Hintergrund

Port (von lateinisch portus): Hafen (für Schiffe); hier symbolisch als Lebensziel / Lebensende (Tod) verwendet.

Interessanterweise vermittelt das Gedicht trotz der stilistischen Konvention (der Gebrauch des Alexandriner-Verses ist bis zur Virtuosität gesteigert) eine suggestiv berührende Aura – wie von überwundener Verzweiflung, von Innehalten.